12.06.2017

tacheles 6/2017: Anerkennungstarifvertrag und künftige Entgelterhöhungen

Enthält ein Arbeitsvertrag eine dynamische Bezugnahmeklausel auf einen Anerkennungstarifvertrag, der dynamisch auf einen Verbandstarifvertrag verweist, endet die dynamische Anwendung des Verbandstarifvertrags für das Arbeitsverhältnis, sobald der Anerkennungstarifvertrag nur noch nachwirkt (BAG, Urteil vom 22. März 2017, Aktenzeichen 4 AZR 462/16).

Der Fall
Die Parteien streiten über die Anwendbarkeit von Tarifverträgen der chemischen Industrie in der jeweiligen Fassung auf ihr Arbeitsverhältnis sowie sich daraus ergebende Entgeltansprüche. Im Jahre 2010 wurde ein insolventes Chemieunternehmen veräußert. Grundlage war ein Anerkennungstarifvertrag (ATV), mit dem sich der Erwerber dazu bereit erklärte, die für die Chemieindustrie geltenden Tarifverträge dynamisch anzuwenden. In dem ATV war auch ein einmaliger, für das Jahr 2010 geltender Verzicht der Arbeitnehmer auf bestimmte Entgeltbestandteile vorgesehen. Der ATV war erstmals zum Ende 2011 kündbar. Im Sommer 2010 erklärten sich die Arbeitnehmer des Unternehmens durch individualvertragliche Einzelvereinbarung mit dem ATV einverstanden. Nachdem der Arbeitgeber den ATV zum Ende des Jahres 2011 gekündigt hatte, gab er später vereinbarte Entgelterhöhungen der Chemieindustrie nicht mehr an die Arbeitnehmer weiter. Ein Arbeitnehmer beantragte festzustellen, dass auf sein Arbeitsverhältnis weiterhin die Tarifverträge der IG BCE in ihrer jeweils aktuellen Fassung Anwendung finden.

Die Entscheidung
Wie schon die Vorinstanzen wies auch das BAG die Klage zurück. Die ausschließlich arbeitsvertragliche Bezugnahme auf die Regelungen des ATV hat zur Folge, dass die Dynamik des Verbandstarifvertrags für das Arbeitsverhältnis endet, sobald der Verweisungstarifvertrag sie nicht mehr zu vermitteln vermag. Im vorliegenden Fall wurde die Dynamik allein über den ATV vermittelt. Sie geht dann verloren, wenn der ATV nach Ablauf von dessen Kündigungsfrist nur noch nachwirkt. Seine Regelungen und damit auch die Regelungen der durch ihn in Bezug genommenen Tarifverträge gelten seit dem 1. Januar 2012 lediglich statisch weiter. Künftige Änderungen der von dem Verweisungstarifvertrag erfassten Tarifverträge kommen daher den Arbeitnehmern nicht zugute, die sich (nur) auf den Verweisungstarifvertrag berufen können. Die im Sommer 2010 getroffene arbeitsvertragliche Vereinbarung enthielt ausschließlich eine Bezugnahme auf den ATV, denn nur dieser Tarifvertrag wurde in der Bezugnahmeklausel erwähnt.

Das Fazit
Die Nachwirkung einer Tarifregelung gemäß § 4 Abs. 5 Tarifvertragsgesetz (TVG) beschränkt sich inhaltlich darauf, den Zustand bis zum Abschluss einer anderen Abmachung zu erhalten, der bei Beendigung des Tarifvertrags bestanden hat. Sie erstreckt sich hingegen nicht auf Änderungen des Tarifvertrags nach seinem Ablauf. Im Nachwirkungszeitraum gelten die Normen des Tarifvertrags zwar immer noch, können aber durch andere Vereinbarungen wie zum Beispiel durch Arbeitsvertrag oder Betriebsvereinbarung – auch zu Ungunsten der Arbeitnehmer – ersetzt werden. Wird dann der verweisende Tarifvertrag gekündigt und wirkt daher nach seinem Ablauf nur noch gemäß § 4 Abs.5 TVG nach, sind die Verweisungsfolgen nach der Rechtsprechung des BAG eingeschränkt. Kommt es während der Nachwirkung des verweisenden Tarifvertrags zu einer Änderung der in Bezug genommenen Tarifverträge, sind diese Änderungen von der Verweisung nicht mehr erfasst, so auch tarifliche Entgelterhöhungen, von denen der Arbeitnehmer aber nicht mehr profitiert, wenn er sich nur auf einen nachwirkenden (Verweisungs-)Tarifvertrag berufen kann.
Im vorliegenden Fall war zu unterscheiden, ob der Arbeitsvertrag eine Bezugnahmeklausel enthält, die auf die Entgelttarifverträge einer bestimmten Branche in ihrer jeweiligen Fassung verweist, oder ob die Bezugnahmeklausel lediglich einen Anerkennungstarifvertrag für anwendbar erklärt, der seinerseits auf bestimmte Flächen- oder Entgelttarifverträge verweist. Von einer arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel kann sich der Arbeitgeber nur mit Zustimmung des Arbeitnehmers lösen, wohingegen der Arbeitnehmer keinen rechtlichen Einfluss auf die Fortgeltung eines Anerkennungstarifvertrags hat.

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